Interprofessionelle "ERAS-Versorgung" in der Chirurgie
Für einen Marathon wird monatelang trainiert – doch wer bereitet Patientinnen und Patienten auf eine Operation vor? Dabei stellt ein operativer Eingriff ebenfalls eine enorme Belastung für den Körper dar. Hier setzt ERAS® an: ein interprofessionelles Behandlungsprogramm, das auch die präoperative Vorbereitung beinhaltet. Was genau ERAS® bedeutet, wie das Behandlungsteam zusammenarbeitet und wie sich die Arbeit einer ERAS-Nurse von anderen Pflegefachkräften unterscheidet, liest du in diesem Artikel.
Operationen bedeuten für Patientinnen und Patienten einen enormen Stress – sowohl mental wie auch körperlich. Eingriffe, die für das Behandlungsteam Routine sind, stellen für die Erkrankten eine absolute Ausnahmesituation dar. Oft muss es dann auch noch schnell gehen.
An der Charité hat sich daher ein multiprofessionelles Team gebildet, um genau hier anzusetzen und Patientinnen und Patienten besonders eng zu betreuen – und das schon vor dem eigentlichen Krankenhausaufenthalt. Denn durch gute Vor- und Nachbereitung lassen sich Komplikationen vermeiden und der Heilungsprozess wird beschleunigt.
Das Team setzt das ganzheitliche Behandlungsprogramm ERAS® um und entwickelt es stetig weiter. Aber wofür steht ERAS® und was steckt dahinter?
Was bedeutet ERAS® und worum geht es bei dem Konzept?
Das ERAS®-Programm (Enhanced Recovery After Surgery, grob übersetzt "Beschleunigte Genesung nach einer OP") der ERAS® Society zielt darauf ab, die postoperative Genesung der Patientinnen und Patienten zu optimieren und stressbedingte Reaktionen des Körpers zu minimieren. Durch evidenzbasierte Richtlinien, die international anerkannt sind, wird sichergestellt, dass in verschiedenen Krankenhäusern vergleichbare Standards eingehalten werden. Dies ermöglicht eine konstante und verlässliche Versorgung über Fachgrenzen hinweg.
Durch enge Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche (multiprofessioneller Ansatz) wird die Genesung beschleunigt, allgemeine Komplikationen verringert und eine frühere Entlassung ermöglicht. An der Charité wird dieses Programm erfolgreich bei komplexen Operationen angewendet und unterstreicht damit den Stellenwert der perioperativen Medizin.
Ein weiterer zentraler Aspekt von ERAS® ist der patientenzentrierte Ansatz. Patienten übernehmen eine aktive Rolle in ihrem Genesungsprozess und im ERAS®-Programm, unterstützt durch umfassende Aufklärung und mit Begleitung durch die ERAS® Nurses. Diese Eigenverantwortung fördert nicht nur das Verständnis des Behandlungsplans, sondern trägt auch dazu bei, den Heilungsprozess erfolgreich fortzusetzen – sowohl im Krankenhaus als auch zu Hause.
Insgesamt verbindet ERAS® die wissenschaftlichen Grundlagen der evidenzbasierten Patientenbetreuung mit einer interprofessionellen Zusammenarbeit, um die Genesung nachhaltig zu verbessern.
Der Behandlungspfad beinhaltet vier Schritte:
- Prästationär (u.a. ERAS®-Sprechstunde, Aufklärungsgespräche, Optimierung des Ernährungsstatus)
- Präoperativ (u.a. Edukation der Patientinnen und Patienten bzgl. Mobilisation und persönliche Beratung)
- Intraoperativ (minimal-invasive Operationsmethoden werden bevorzugt eingesetzt und das Einlegen von Drainagen wird nach Möglichkeit vermieden)
- Postoperativ (u.a. enge Begleitung durch ERAS® Nurses inkl. Follow-up in der Häuslichkeit)
Umsetzung des ERAS®-Programms an der Charité
ERAS® wurde an der Charité bereits 2019 eingeführt. Aufgrund der mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen, wurde das Programm personell jedoch erst 2023 vollständig im klinischen Alltag integriert.
Um das ERAS®-Programm erfolgreich umzusetzen, müssen zahlreiche Voraussetzungen erfüllt sein. Die größte Herausforderung besteht dabei in der nachhaltigen Implementierung von ERAS® im klinischen Alltag. Mit mehr als 70% Adhärenzrate haben wir dies an der Charité bereits erreicht. Mittlerweile laufen am CharitéCentrum für Chirurgische Medizin CC 8 vier Protokolle (Leber, Pankreas, Kolorektal und Thorax), die erfolgreich von der ERAS® Society zertifiziert wurden. Ein weiteres Protokoll läuft im CharitéCentrum für Frauen-, Kinder- und Jugendmedizin CC117. Weitere Bereiche sollen folgen.
Das Hauptteam besteht aus vier ERAS® Nurses: Bettina Steinicke, B.Sc. Alexandra Zühlke, M.A. Marlen Charlot Breitkreutz und M.A. Clarissa Schweizer. Neu dabei ist B.Sc. Henriette Thorau in der Frauenklinik.
Das Team wird pflegewissenschaftlich von der Stabsstelle Akademisierte Gesundheitsfachberufe unter der Leitung von Sarah Goldsteen unterstützt. Den Startschuss kam vom Direktor der Chirurgischen Klinik am CCM und CVK, Prof. Dr. Pratschke. Geleitet von ärztlicher Seite wird das Programm von Prof. Dr. Neudecker, Chirurg mit Schwerpunkt Thoraxchirurgie in der Chirurgischen Klinik.
Um ERAS® erfolgreich anzuwenden, bedarf es aber der Zusammenarbeit weiterer Akteure. Nämlich allen, die am Genesungsprozess der Patientinnen und Patienten beteiligt sind. Dazu gehören:
- Physiotherapie und Sporttherapie
- Alle Pflegenden sowie das ärztliche Team der chirurgischen Stationen (ITS und NST)
- Anästhesie
- Psychoonkologie, Palliativdienst sowie Ernährungsberatung und Sozialdienst
Wie hat sich die Zusammenarbeit der Berufsgruppen verändert, seit ERAS® etabliert wurde?
Im klinischen Alltag ist es ein bekanntes Phänomen: „Working in Silos“ – jede Station und jeder Fachbereich verfolgt oft eigene Ansätze, obwohl alle dasselbe Ziel anstreben: die bestmögliche Versorgung und Genesung der Patientinnen und Patienten. Diese isolierten Arbeitsweisen führten häufig zu Inkonsistenzen in der Versorgung und behinderten einen effektiven Austausch zwischen den Berufsgruppen.
Das Versorgungsprogramm ERAS® definiert Zusammenarbeit neu. Durch die Implementierung von ERAS® wurde an der Charité ein strukturierter Rahmen geschaffen, um Patientinnen und Patienten über alle Bereiche hinweg bestmöglich zu betreuen. So lernen die ERAS® Nurses die Erkrankten bereits vor der Operation kennen und betreuen sie auf der Intensiv- oder Normalstation. Sie rufen auch in der Häuslichkeit an, um sicherzustellen, dass sie dort adäquat versorgt sind. Die Patientinnen und Patienten haben feste Ansprechpersonen, rund um ihren Krankenhausaufenthalt. Dies spiegelt sich dann auch in der Patientenzufriedenheit wider. Zitat: “nicht allein gelassen zu werden in einem Krankenhaus dieser Größe”.
Außerdem wurde durch ERAS® einen Rahmen geschaffen, der z. B. durch regelmäßige interprofessionelle Meetings einen stetigen Austausch fördert. Ein zentrales Element sind die ERAS®-Kernteamtreffen (Audit & Feedback), die alle acht Wochen stattfinden. Diese Treffen werden von den ERAS® Nurses organisiert und geleitet. Hier kommen alle Beteiligten zusammen – über das ärztliche Personal (Oberärzte der jeweiligen Stationen, Anästhesie) bis hin zur Physiotherapie, Sporttherapie, Sozialarbeitende, die ERAS® Beauftragten sowie pflegerische Leitungen der Intensiv- und Normalstation. Gemeinsam analysieren sie die aktuellen Prozesse, prüfen relevante Daten und führen Fallbesprechungen durch. Diese Transparenz und der Austausch haben nicht nur die Teamdynamik gestärkt, sondern auch das Verantwortungsgefühl der Beteiligten erhöht. Eine so umfassende und interprofessionelle Fallbesprechung, die Experten aus verschiedenen Bereichen – wie Ambulanz, Normalstation, Intensivstation sowie Anästhesie und OP-Bereich – zusammenbringt, war im klinischen Alltag zuvor nicht üblich.
Wie unterscheiden sich die Aufgaben von ERAS®-Nurses zu anderen Pflegefachkräften?
Die Rolle der ERAS® Nurse stellt einen neuartigen Ansatz in der Patientenversorgung dar, der sich von der traditionellen Rolle der Pflege unterscheidet. Während Pflegekräfte auf spezifischen Stationen tätig sind, begleitet die ERAS® Nurses die Erkrankten durch alle Phasen des Behandlungspfades – von der präoperativen Vorbereitung bis hin zur postoperativen Nachsorge.
In dieser Schlüsselposition laufen bei der ERAS® Nurse alle organisatorischen und fachlichen Fäden zusammen. Sie fungiert als zentrale Anlaufstelle sowohl für die Patientinnen und Patienten, als auch für die Mitarbeitenden rund um das ERAS® Programm.
Zu den Aufgaben der ERAS Nurses gehört:
- Beratung und Schulung von Patientinnen und Patienten: 1-2 Wochen vor der Operation in der ERAS®-Sprechstunde
- Klinisches Datenmanagement: Erfassung, Analyse und Auswertung von Patientendaten zur kontinuierlichen Verbesserung der Prozesse
- Interprofessionelle Zusammenarbeit: Koordination zwischen verschiedenen Berufsgruppen zur Optimierung der Versorgung sowie regelmäßige Durchführung von Fallbesprechungen und Audits
- Einhaltung der ERAS®-Empfehlungen: Prüfung der Umsetzung der ERAS®-Protokolle und Identifikation von Verbesserungspotenzialen
- Klinische Assessments: Regelmäßige Beurteilung der Patientensituation und Ableitung geeigneter Maßnahmen
Charité Nurses auf Kongressen
Kongresse und das Verfassen von Publikationen sind an der Charité selbstverständlich nicht nur der Ärzteschaft vorbehalten. So haben die Charité ERAS®-Nurses kürzlich einen Abstract zur Frühmobilisation von Patientinnen und Patienten nach Leberoperationen auf dem World ERAS® Kongress in Málaga präsentiert. Der Abstract beleuchtete die Mobilisationsraten vor und nach der Einführung des ERAS®-Protokolls. Diese zeigen einen deutlichen Anstieg der Mobilisationsrate: Von 5,4 % Mobilisationsrate vor Einführung von ERAS® am Operationsabend, bis hin zu 53,9% nach Einführung von ERAS®.
Mit weiteren Publikationen und einer stärkeren Vernetzung aller ERAS®-Nurses im D-A-CH-Verband, treiben sie ein Umdenken bereits bestehender Strukturen im Gesundheitswesen voran, damit Patientinnen und Patienten von der bestmöglichen Versorgung profitieren.
Wie wird man ERAS® Nurse?
Es gibt bislang keine spezielle Ausbildung zur ERAS® Nurse. Um an der Charité in der Position zu arbeiten, gilt als Voraussetzung ein Abschluss zur Pflegefachfrau bzw. Pflegefachmann sowie ein akademischer Abschluss (mind. Bachelor). Im besten Fall gepaart mit Erfahrung im chirurgischen Bereich. International wird derzeit ERAS® auf Masterniveau (ANP) ausgebaut.
An der Charité gibt es zurzeit mehrere freie Stellen für Pflegefachpersonal auf den chirurgischen Stationen. Ein guter Ausgangspunkt, um sich am ERAS®-Programm zu beteiligen und sich einzubringen.
Insbesondere können wir dir die Arbeit auf der Intensivstation für Transplantationschirurgie empfehlen, die verstärkt mit ERAS® arbeiten.