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Berliner Giftnotruf an der Charité: Helfen, Lernen und Wachsen im Expertenteam der Toxikologie

Der Berliner Giftnotruf ist eine zentrale Anlaufstelle für Notfälle rund um Vergiftungen und bietet seit 1963 telemedizinische Beratung an, sowohl für medizinisches Personal als auch für Laien. Mit einem interdisziplinären Team, darunter Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und pharmazeutisches Fachpersonal, beantwortet die Einrichtung täglich etwa 130 Anrufe, von banalen Fragen bis hin zu lebensbedrohlichen Notfällen.

Die Arbeit im Giftnotruf an der Charité erfordert umfassende toxikologische Kenntnisse, schnelle Entscheidungsfähigkeit und manchmal auch kreative Lösungen. Neben der Unterstützung lokaler und internationaler Fälle dient die Einrichtung auch als Ausbildungszentrum für Fachkräfte in Akut- und Notfallmedizin. Dank moderner Technik und langjähriger Erfahrung bleibt der Giftnotruf ein Vorreiter der Telemedizin und ein unverzichtbarer Bestandteil der medizinischen Versorgung.

Drei Mitarbeitende des Giftnotrufs draußen.
V.l.n.r.: Ingo, Daniela und David vom Berliner Giftnotruf am Charité Campus Benjamin Franklin

Ein typischer Start in den Tag beim Giftnotruf

Das Telefon klingelt, Daniela Acquarone hebt ab. Sie meldet sich mit „Giftnotruf Berlin – wie kann ich Ihnen helfen?“ Die Anruferin ist eine besorgte Mutter, sie berichtet unter Tränen, dass sie ihren Wasserkocher am Abend mit einer Entkalkerlösung befüllt hat. Heute morgen hat sie vergessen die Lösung zu verwerfen und stattdessen damit Säuglingsnahrung zubereitet. Mit dieser hat sie nun ihre drei Monate alte Tochter gefüttert.

Daniela ist Ärztin, klinische Toxikologin und stellvertretende Leiterin des Giftnotrufs der Charité und bereits seit über 20 Jahren in diesem Bereich tätig. Sie nimmt regelmäßig solche Anrufe entgegen und schafft es, die aufgelöste Mutter schnell und routiniert zu beruhigen und das weitere Vorgehen zu besprechen. 

Anrufe zwischen Banalitäten und Beinhahe-Katastrophen

Die Hälfte der Anrufenden im Giftnotruf sind Laien. Der Fall mit dem Entkalker und der Säuglingsnahrung ist ein Klassiker. Häufig essen oder trinken Kleinkinder auch Haushaltsreiniger. Dazu kommen Medikamente, die im häuslichen Umfeld in die Hände von Kindern geraten sind, verwechselt oder falsch dosiert wurden.

Bei der anderen Hälfte der Anrufenden handelt es sich um medizinisches Personal (Rettungskräfte, Notfall- und Intensivmediziner, Hausärzte u.a.). Diese Anrufenden erhalten Information über zu erwartende Symptome der Intoxikation und benötigen Beratung zu spezieller Diagnostik und Therapieverfahren.

Den ganzen Tag über schwanken die Anrufe zwischen Banalitäten und Beinahe-Katastrophen: Darunter sind Vorfälle, die eigentlich keine Probleme darstellen sowie einige echte Notfälle, bei denen es für die Betroffenen um alles geht.

Eine Mitarbeitende des Giftnotrufs am Telefon.
„Giftnotruf Berlin – wie kann ich Ihnen helfen?", meldet sich Daniela am Telefon. Sie spricht ruhig und souverän, um möglichen Ängsten der oder des Anrufenden entgegenzuwirken.

Beratungen für medizinisches Fachpersonal

Schon ist der nächste Anrufer in der Warteschleife. Dr. Iris Betz nimmt den Anruf an. Sie ist ärztliche Rotandin einer Intensivstation und für ein Jahr mit 50 % ihrer Arbeitszeit beim Giftnotruf angestellt. Die anderen 50% arbeitet sie weiter auf der Intensivstation. Zuvor war sie im Rahmen ihrer internistischen Weiterbildung in einer großen Notaufnahme an der Charité tätig. Jetzt sitzt sie nur 15 Meter Luftlinie von der Notaufnahme entfernt, in einem Nebengebäude am Charité Campus Benjamin Franklin, in den Räumlichkeiten des Giftnotrufes. Ein Arzt aus einem Krankenhaus ist in der Leitung, er möchte einen Fall aus der vergangenen Nacht besprechen. Eine Patientin hatte in suizidaler Absicht eine sehr große Menge eines Antidepressivums eingenommen und nachts einen Kreislaufstillstand. Die Reanimation musste dann rasch mit einem Kreislaufunterstützungsverfahren (ECMO) weitergeführt werden. Der Giftnotruf war in der Nacht bereits in den Fall involviert. Jetzt möchte der Kollege wissen, wie lange bei dieser Art der Vergiftung schwere Symptome zu erwarten sind und ob eine zusätzliche Hämodialyse sinnvoll sein kann, um das Gift aus dem Kreislauf zu entfernen.

Digitale Datenbanken für komplexe, medizinische Fälle

Für solche komplexen Fragestellungen gibt es im Giftnotruf digitale Datenbanken, auf die zurückgegriffen werden kann. Zu unzähligen Giften sind hier wissenschaftliche Daten hinterlegt, die zur Einschätzung der Situation behilflich sind. Darüber hinaus ist aber auch die Erfahrung der einzelnen Mitarbeitenden entscheidend, um diese komplexen Situationen einzuschätzen.

Iris kann das digitale Protokoll aus der Nacht schnell finden, verschafft sich einen Überblick und kann die Fragen des Kollegen schnell beantworten und mit ihm die weiteren Behandlungsoptionen besprechen.

Besondere Notfälle erfordern unkonventionelle Lösungen: da kann auch mal Weinbrand zur Entgiftung eingesetzt werden

Wieder klingelt das Telefon. Es sind ungefähr 130 Anrufe am Tag, in Spitzenzeiten auch deutlich mehr. Im Frühdienst sind heute drei Mitarbeitende in der Telefonberatung. Friederike Wittchen übernimmt den Anrufer, sie ist eine der erfahrensten Ärztinnen im Giftnotruf.

Ein Patient in einer Notaufnahme hat eine größere Menge Ethylenglykol getrunken. Dem Patienten geht es aktuell noch gut - trotzdem sollte hier zeitnah ein Antidot gegeben werden, erklärt Friederike dem ärztlichen Kollegen am anderen Ende der Leitung. Der Arzt stellt fest, dass das genannte Antidot in der Klinik nicht verfügbar ist und erst bestellt werden muss. Dies könne einige Stunden dauern. Friederike überlegt einen Moment und empfiehlt dem Kollegen schließlich, am nächsten Kiosk eine Flasche Weinbrand zu besorgen und diesen dem Patienten nach einem festgelegten Schema über eine Magensonde zu verabreichen. Der Alkohol blockiert das Gift auf die gleiche Weise wie das Antidot und hilft so, die wertvolle Zeit zu überbrücken, bis das Antidot geliefert ist. “Manchmal muss man erfinderisch sein und ein bisschen improvisieren”, sagt Friederike. In einigen Teilen der Welt ist das Antidot nicht auf dem Markt und Alkohol sogar die einzige Behandlungsmöglichkeit.

Ingo und seine Kollegin besprechen sich während eines Anrufs.
Friederike und Ingo erörtern ein giftiges Szenario.

Der Berliner Giftnotruf ist auch im Ausland tätig

Der Giftnotruf wird von Zeit zu Zeit auch aus dem Ausland kontaktiert, erzählt David Steindl. Er ist der Leiter des Giftnotrufs, Internist und Nephrologe soiwe leidenschaftlicher Intensiv- und Notfallmediziner.

Zum Beispiel gab es Anrufe aus dem Libanon, als dort am 4. August 2020, 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der Hauptstadt Beirut explodierten. Die überwiegend deutschsprachigen Anrufer aus Beirut waren besorgt und wollten wissen, ob der Staub der Explosion für Sie gefährlich sein könnte. “Darüber hinaus haben wir kürzlich gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Klinik für Anästhesiologie m.S. operative Intensivmedizin im Rahmen des Telemedizinprojekts ERIC einen Jungen in Usbekistan behandelt. Er hatte sich dort mit einem Organophosphat (Pestizid) vergiftet und schwere Symptome entwickelt. Wir waren auch in die Behandlung des russischen Oppositionspolitikers Nawalny involviert, als er an der Charité wegen einer Vergiftung mit einem Nervenkampfstoff behandelt wurde”, ergänzt David.

Interdisziplinäre Weiterbildungskonzepte, Rotationen und komplexe Einarbeitungen

"Wir haben hier wirklich ein breites Spektrum an Intoxikationen, das wir bedienen. Auch wenn wir uns in einer Nische der Medizin bewegen, ist diese sehr weitreichend und immer wieder faszinierend", berichtet David. Mitarbeitende können beim Giftnotruf unglaublich viel lernen. So gesehen entspricht die Arbeit im Giftnotruf auch gleichzeitig einer hoch spezialisierten Weiterbildung. Hiervon können auch Kollegeninnen und Kollegen aus anderen Fachbereichen profitieren. Insbesondere diejenigen, die sich in der Weiterbildung zur klinischen Akut-und Notfallmedizin, Intensivmedizin und auch der Pädiatrie befinden, können im Rahmen einer Weiterbildungsrotation viel für ihren späteren klinischen Alltag mitnehmen. “Wir bieten solche Rotationskonzepte ganz gezielt in Kooperation mit den interdisziplinären medizinischen Intensivstationen der Charité an. Der enge Austausch ist sehr befruchtend. Dieses Weiterbildungskonzept ist auch für Weiterbildungsassistentinnen und Assistenten der Pädiatrie und der Notaufnahme eine spannende Erweiterung. Auch Interessenten aus anderen Kliniken können sich bewerben”, fügt David hinzu. In einigen Fällen kann nach aktueller Weiterbildungsordnung die Tätigkeit als “Weiterbildung in anderen Gebieten” auf die Facharztweiterbildungszeit angerechnet werden.

“Wir haben ein gutes und etabliertes Einarbeitungskonzept,” erläutert David weiter, “in dem wir unsere neuen Mitarbeitenden an die Hand nehmen und ausführlich und systematisch an die Thematik heranführen. Ich erinnere mich noch gut an meine Einarbeitung. Ich hatte über zwei Wochen einen 1:1 Betreuung und wurde so zielgerichtet an die komplexe Arbeitsstruktur im Giftnotruf herangeführt. Das kannte ich aus der Klinik so nicht.”

Zwei Mitarbeitende des Giftnotrufs unterhalten sich.
David bespricht mit Daniela das aktuelle Einarbeitungskonzept für eine neue Kollegin.

Zahlen und Fakten zum Giftnotruf Berlin

Der Giftnotruf Berlin wurde 1963 ins Leben gerufen. Seit 2012 ist er in die Charité integriert.  Im Beratungsteam des Giftnotrufs der Charité arbeiten aktuell 19 Personen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen: Ärztinnen und Ärzte aus den Bereichen

  • Innere Medizin,
  • Anästhesie,
  • Notfallmedizin,
  • Nephrologie,
  • Intensivmedizin und
  • der Pädiatrie.

Hinzukommen Pharmazeuten und Pharmazeutinnen, Physician Assistants und Pflegefachpersonal. Die meisten der Mitarbeitenden haben eine spezielle toxikologische Weiterbildung. 

Toxikologische Expertise gehört i.d.R. nicht zu den Basic Skills von medizinischem Personal. Im Giftnotruf ist diese dagegen schwerpunktmäßig über die Jahre gewachsen und konzentriert. Die Arbeit im Giftnotruf erfordert ein tiefes Verständnis der Physiologie und Pathophysiologie sowie ein umfassendes Wissen über gefährliche und harmlose Substanzen. “Wir müssen in der Lage sein, diese Informationen schnell abzurufen und zusammenzufassen und sie so weiterzugeben, dass eine Anruferin oder ein Anrufer sie verstehen kann. Eine besondere Bedeutung fällt der Einschätzung der Exposition zu. Hierfür spielen Erfahrung und Expertise des toxikologisch geschulten Personals eine große Rolle”, erklärt Daniela Acquarone.

Vorreiter der Telemedizin

Die Giftinformationszentren sind die Vorreiter der modernen Telemedizin. "Giftinformationszentren haben mit dieser Art der telemedizinischen Beratung begonnen, als mediale Verfahren noch nicht in der fachlichen Diskussion waren", erklärt Dr. Ingo Greb. Er ist Anästhesist, hat lange auf Intensivstationen und als Notarzt gearbeitet und ist mittlerweile seit 4 Jahren beim Giftnotruf. “Durch die Art der „telemedizinischen“ Anbindung an die Kliniken und die Erreichbarkeit für Laien, sind wir immer dort, wo wir gebraucht werden: im Spielzimmer, auf dem Spielplatz, in der Notaufnahme und auf Intensivstationen. Im Laufe der Zeit haben wir sowohl unsere Expertise als auch unsere Technik verfeinert. Gerade versuchen wir unsere Möglichkeiten mit Hilfe von modernen Kommunikationstechniken zu erweitern. Das macht unsere Arbeit unglaublich spannend!”

Ingo, ein Mitarbeiter des Giftnotrufs am Telefon gestikulierend.
Giftinformationszentren haben mit dieser Art der telemedizinischen Beratung begonnen, als mediale Verfahren noch nicht in der fachlichen Diskussion waren. Sie sind die Vorreiter der modernen Telemedizin.

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